INS MOOR GEHEN - Künstlerische Arbeit als Weltaneignung

Die Inspirationsquelle für die Arbeit von Gert Pallier ist die Gegenstandswelt, die urbane Umgebung, die städtische Architekturlandschaft, aber ebenso, und das in erster Linie, die unbesiedelte Natur, die Landschaft. Sie dient dem Künstler als Ort der geistigen Befruchtung, sie liefert ihm vielfältige Eindrücke und Bilder, nährt seine Fantasie mit Formen und Strukturen, mit Farben und Gerüchen, sensibilisiert ihn für unterschiedliche Stimmungen und Atmosphären, für die Wirkung des Lichtes und die Veränderungen durch die Jahreszeiten. Hier reichert der Künstler sein inneres Reservoir an, hier entwickelt er sein bildnerisches Vokabular, entdeckt sogar Materialien, die ihm dann als Pigment für seine Malerei dienen; hier findet er Ruhe und Konzentration und baut zugleich in stundenlangen, einsamen, vielleicht sogar meditativen Aufenthalten den notwendigen Spannungszustand auf, um später im Atelier zur zeichnerischen bzw. malerischen Umsetzung am Papier und auf der Leinwand zu schreiten. Die Natur ist jener Ort, der Gert Pallier beeindruckt und berührt, der seine Sinne reizt und seine künstlerische Antwort fordert, einen emotionalen und kreativen Prozess anstößt. Das tiefe Naturerlebnis begeistert den Künstler. Pallier agiert nahe zur romantischen Manier, wenn ihm die Natur zum Quell großer Gefühle wird. Metaphysische Dimensionen und Glaubenssubstitution sind ihm allerdings fern. Die Erfahrung bezieht sich auf umfassende sinnliche Möglichkeiten, schließt jedoch Überhöhung oder gar symbolische Aufladung gänzlich aus.

Die Werke des aktuellen Kataloges von Gert Pallier sind Resultate ausgedehnter und intensiver Wanderungen in verschiedenen Moorlandschaften – in Kärnten im Bleistätter Moor, im Sablatnig-, Debar- und im Dobramoor sowie im Moorgebiet um Worpswede bei Hamburg –, die in den Jahren von 2007 bis 2011 entstanden sind. Dabei handelt es sich um fünf unterschiedliche Serien, entweder auf klein- und mittelformatigem Papier oder auf mittleren und großen Leinwänden ausgeführt, gemalt jeweils in Mischtechniken von Temperafarbe, Bleistift, Pastell- und Ölkreide, sowie mitunter durch diverse Naturmaterialien angereichert, die vor Ort aufgefunden wurden, wie Erde, Kohle, Algen oder Pflanzensaft.

Stundenlang hält sich der Künstler in der Wildnis auf. „Das-in-die-Landschaft- Gehen, ins Moor-Gehen ist eine Auffrischung meiner Möglichkeiten. Im Moor finde ich die dunklen und intensiven Farben, die in dieser Serie meine Palette prägen. Mich faszinieren auch aterialien aus der Natur, die mich inspirieren und herausfordern.“ Es sind unkultivierte, unverfälschte Orte, an denen sich Pallier aufhält: naturbelassene, menschenleere chauplätze; täglich, immer wieder sucht der Künstler den jeweiligen Platz seines nteresses auf. Die erste Zeit dient der „Akklimatisierung“, er muss sich an die Umgebung gewöhnen, er konfrontiert sich mit ihr, nähert sich ihr an und lernt sie kennen, studiert ihre speziellen Eigenschaften, beobachtet, mobilisiert die eigenen Sinne und lässt die Eindrücke in sich einfl ießen, nimmt alles auf – eignet sich die Landschaft emotional und visuell an. Ist diese Phase der „kontemplativen Durchdringung“ der Natur geschlossen, entstehen „en plain air“ in konzentrierter und sehr intensiver Arbeit die ersten Studien.

„Wenn man mit offenen Augen in das Moor geht, dann finden sich Pflanzen, Äste, Gräser, sonstige Naturalien. Ich gehe der Formation dieser Dinge nach: Ihren Formen und Strukturen, zeichne Linien, blaugrüne Flecken, es ergibt sich plötzlich etwas, was Natur geblieben ist, aber auch im Kopf geworden ist: die Poesie der einfachen Dinge“, beschreibt Gert Pallier die frühen Schritte seiner Arbeit. Mit dem Grad der Vertrautheit mit der Materie steigert sich dann die Kraft des Erlebnisses sowie der Umfang und die Tiefe der Arbeit. Unzählige Skizzenblätter werden angefertigt – oft arbeitet der Künstler (wie in einem Rausch) bis zur Erschöpfung. „Der Arbeitsprozess ist beides, eine geistige und eine körperliche Anstrengung – ich will mich nicht auf Routine verlassen, ich kämpfe mit der Form und mit der Farbe –, und ich gehe manchmal aus dem Atelier oder aus der Landschaft völlig erschöpft heraus.“ Der manische, beinahe obsessive Einsatz, den der Künstler hier beschreibt, spiegelt sich deutlich auch in seiner Handschrift, in der Intensität der Farben, aber vor allem in der zeichnerischen Linie. Ihr Duktus schreibt den inneren Erregungszustand des Künstlers nieder: Klare, heftige, dunkle Striche, unruhige Führungen, drastische Zacken und Ecken oder aber auch zarte, sensible, beinah fragile Gespinste skizzieren seinen Spannungszustand bzw. die Emotionslage. Stimmungsvolle, expressive, lyrische Kompositionen entstehen auf der Fläche der weißen Leinwand bzw. des Papiers, Bildräume, die in der Betrachtung komplex Landschaftliches assoziieren.

Dabei gibt die Stimmung der Bildwerke nicht das tatsächliche Beobachtungsbild wieder – Ziel ist nicht eine realistische oder objektive Darstellung der Natur –, sondern sie beruht auf den Gefühlen, die das Landschaftserlebnis im Maler auslöst. Pallier baut seine Landschaften aus einfachen Mitteln, aus Farben entstehen Flächen, Flecken und Linien, dazu kommen eventuell materiale Einsprengsel. Bevorzugt am Querformat entwickelt sich die Komposition schwerpunktmäßig entlang der fiktiven horizontalen Teilung des Bildgrunds, dort verdichtet sich tendenziell zum Zentrum des Gevierts hin die Gestaltung. Auf diese Weise breitet sich vor dem Betrachter, der sich auf einem erhöhten Standpunkt befi ndet, ein gefühlter, weiter und unbegrenzter Landschaftsraum aus. Gegenläufig finden sich vertikale Einschübe im Bild, die einen gewissen Bruch der Perspektive und eine Irritation in der Vorstellung eines Raumkontinuums hervorrufen. Blockhafte Rechteckformen werden vom unteren Bildrand in die Fläche geschoben und stellen dem dominanten, großen Horizont ein gleichwertiges formales Pendant entgegen, das die Komposition neu gewichtet und das räumliche Bild völlig verändert, eine neue Dimension des Raumes aufklappt. Die geometrischen Elemente konterkarieren in ihrer Geschlossenheit und Statuarik die bewegten zeichnerischen und malerischen Linien und die bewusst gesetzten sowie zufällig bzw. beiläufig entstandenen biomorphen Formen. Der Kontrast der Geometrie wirkt am stärksten zu den zeichnerischen Bildpartien, die in ihrer Ausdrucksstärke aus dem Bildganzen hervortreten.

Die Zeichnung ist die Diszip lin, die dem Ausdruckswillen Palliers die überzeugendste Form bietet. Die Zeichnung ist ein schnelles, unkompliziertes Verfahren, das es dem Künstler ermöglicht, unmittelbar und direkt seine Ideen bzw. Gefühle bildnerisch umzusetzen. Für Pallier erscheint es besonders geeignet, um seine inneren Schwingungen angesichts des Erlebnisses der Außenwelt zu transportieren. Die Zeichnung ist das Medium, das der Sensibilität des Künstlers am weitesten entgegenkommt und zugleich seinem Anspruch an Disziplin genügt. Der zeichnerische Strich, abwechselnd kräftig und vorherrschend und dann wieder fein und zurückhaltend, bestimmt die Gestaltung, setzt Akzente, hebt hervor, schafft Übergänge und Zusammenhänge, erzeugt Rhythmus und Struktur und gibt dem Ganzen pulsierende Lebendigkeit und Ausdruck, ist Träger der Emotion und Stimmung – ebenso wie auch die Farbe, die dem Bild zusätzlich Raum und Perspektive verleiht. Während des künstlerischen Aktes verlagert sich die Orientierung, die ihren Fokus zu Beginn der Arbeit auf die Dinge der realen Welt lenkt, nach und nach gänzlich auf den Mal- bzw. Zeichenprozess selbst. Die Resultate, die Bilder, die Gert Pallier schafft, sind keine Landschaften im klassischen Sinn, keine mimetische Nachahmung der Wirklichkeit. Es handelt sich vielmehr um Werke, die zwar unter Anregung der sinnlichen Reize – synästhetischer Eindrücke visueller, auditiver, taktiler und olfaktorischer Art – und der formalen Eigenschaften der sichtbaren Welt zustande kommen, die im Ergebnis aber als autonome, in sich schlüssige abstrakte Werke dastehen. Es sind Evokationen, die vermögens ihrer Ausdrucksstärke im Betrachter wiederum bestimmte Assoziationen, Vorstellungen und Bilder erzeugen. Es sind parallele Wirklichkeiten zur Wirklichkeit der Welt (im klassischen Sinn der frühen Moderne). Die Übersetzung des Gesehenen, die auf der Bildfl äche stattfindet, ist Ausdruck der eigenen Empfi ndung. „Der äußeren Bildwelt eine innere entgegensetzen“ nennt es Gert Pallier.

Der Künstler löst sich im Arbeiten von den Motiven der sichtbaren Welt. Die Bildmittel verselbstständigen sich und erhalten zusehens eine eigene, mitunter psychologische Wertigkeit. Damit rückt die Arbeit Gert Palliers in die Nähe der psychischen Improvisation, in der sich der Duktus so weit löst, dass er ausschließlich inneren Impulsen gehorcht. Das Bild wird quasi zum Psychogramm, zur seismografi schen Aufzeichnung des eigenen Seelenzustandes. In der Arbeit werden die inneren, bewussten und unbewussten Prozesse sichtbar und stehen den äußeren Verhältnissen gegenüber; beide Realitäten treffen aufeinander. Die künstlerische Arbeit ist Antwort und Reaktion auf die Vorgaben der Außenwelt, jedoch nicht im direkten Sinn, sondern als mehrschichtiger Ablauf, der durch bewusst und unbewusst Wahrgenommenes gebildet wird, angereichert durch Erfahrenes und Gelerntes, geformt durch den Katalysator der subjektiven Vorstellungen und gesteuert durch die individuellen Anschauungen und Fähigkeiten des Künstlers. Im Resultat werden beide Pole, das Äußere und das Innere, zusammengeführt.

Pallier ist in seiner künstlerischen Arbeit auf der Suche nach inneren Antworten. So postuliert er: „Es muss ein wahres Bild sein, es muss aus der echten Persönlichkeit kommen, die etwas sichtbar macht.“ Er spürt nach seelisch-emotionalen Entsprechungsbildern zu den Dingen der Außenwelt– seien es die Gegenstände der Natur, der Landschaft und der Städte oder geistiger Dinge, wie etwa die Gedichte des Pablo Neruda, denen der Maler bereits einen umfassenden Werkzyklus gewidmet hat. Und diesen Bildern kann er nur mittels der abstrakten Gestaltung, ihrer bildnerischen Möglichkeiten und ihrer spezifi schen sprachlichen Mittel, der Kraft der Farben, Formen und Linien, Ausdruck verleihen. „Ich möchte, dass die Linien, dass die Farben und Formationen stellvertretend sind für meine Welt.“ Gert Pallier beherrscht die abstrakten Möglichkeiten und weiß um deren optische und psychologische Wirkung. Der Künstler hat erkannt, dass die Eigenschaften und Fähigkeiten der Mittel selbst stärker sind als die akribische Darstellung der Gegenstandswelt, dass Farben und Formen, Duktus und Rhythmus mehr auszudrücken vermögen, den Betrachter tiefer berühren können als die präzise Abbildung der Seinsverhältnisse, dass diese Kräfte jenen der Natur entsprechen können und ihr als Äquivalent gelten. In dieser Hinsicht entwickelt die Malerei eine Stärke, die vergleichbar ist etwa jener der Musik, die selbst im Stande ist, Gefühle auszudrücken und zu vermitteln, und die den Menschen im Innersten zu ergreifen vermag.
Palliers Kunst beruht auf einer freien Interpretation einer umfassenden subjektiven Welterfahrung, wiedergegeben in einem bildnerischen Äquivalent, in einer persönlichen Handschrift und in äußerst großer Sensibilität für die Natur, ihre Erscheinungsformen und Wirkweisen. Sie ist eine Komposition über die Wirklichkeit, eine harmonische Sinfonie, in der alles in Eins fl ießt: die reale Welt, ihre Farben, Formen und Gerüche, die eigenen Wahrnehmungen, Erinnerungen, Empfindungen und Gefühle und sogar die konkreten Dinge der Natur, ihre Materialien. Die Werke entstehen im Dialog zwischen Erschautem und Refl ektiertem, und das Bild ist die Analogie der subjektiven Erlebnisweise. Das Malen hat für Gert Pallier immer etwas mit der eigenen Existenz zu tun, ist von ihm selbst nicht abspaltbar. Immer geht es um das eigene Dasein in dieser Welt. Jedes Werk ist ein Dokument dieser Auseinandersetzung, und der Bildgrund ist der Schauplatz der individuellen Verortung, der existenziellen Vergewisserung und der Rückversicherung wider die Entfernung und Entfremdung von der Natur oder gar ihrer Zerstörung und Auslöschung.

Christine Wetzlinger-Grundnig
Museum Moderner Kunst Kärnten (MMKK)

Unterschrift Pallier Gert